Analyse: Zeigte Räikkönen unbemerkt das wahre Tempo von Ferrari?
War es beim Barcelona-Test eine beinahe unbemerkt gebliebene Runde von Kimi Räikkönen, die Mercedes vor Ferrari fürchten lässt? Wir gehen der Sache nach.
Foto: XPB Images
Mit seiner Aussage, dass man bei Mercedes nicht wisse, ob man vor oder hinter Ferrari liegt, überraschte Nico Rosberg am Freitag in Barcelona einige Leute. Auf dem Papier fuhr Mercedes bei den Wintertestfahrten in einer eigenen Liga. Schließlich legten die Silberpfeile im Verlauf der zwei Wochen beinahe 20 Grand-Prix-Distanzen zurück.
Für Ferrari hatte die zweite Testwoche mit einigen Zweifeln begonnen, doch als der Testbetrieb am Freitag beendet war, gab es bei der Truppe aus Maranello vorsichtigen Grund zum Optimismus. Sebastian Vettel ist nicht dafür bekannt, vor Begeisterung Luftsprünge zu machen, doch selbst er gab zu, dass Ferrari näher dran ist. Einzig, wie viel näher, ließ er offen.
Fotos: Zweite Formel-1-Testwoche 2016 in Barcelona
„Wir haben natürlich versucht, den Rückstand zu reduzieren, nachdem er im vergangenen Jahr doch recht groß war“, sagte Vettel nach Abschluss der Wintertestfahrten in Barcelona mit Verweis auf den Rivalen Mercedes.
„Ich glaube, wir haben im Verlauf der zurückliegenden Saison gute Arbeit geleistet und sind etwas näher gekommen. Mit dem neuen Auto haben wir die Chance, den Rückstand weiter zu verkürzen. Wir müssen uns aber noch ein paar Wochen gedulden“, so Vettel.
Maßgebliche Rundenzeiten
Aus Testfahrten klare Rückschlüsse zu ziehen, ist von Natur aus schwierig, weil es verschiedene Faktoren gibt, die das Gesamtbild verzerren können. Reifenmischungen und Benzinmengen sind seit jeher zwei dieser Faktoren, doch in der heutigen Zeit spielen auch Motoreinstellungen eine Rolle. Hinzu kommt, dass die Strecke in Barcelona vormittags deutlich bessere Rundenzeiten zulässt als nachmittags. Grund dafür sind die auffrischenden Winde in den Nachmittagsstunden.
Statistik: Die zweite Formel-1-Testwoche 2016 in Barcelona in Zahlen
Der einzige Faktor, der sich mit Sicherheit bestimmen lässt, ist die Reifenmischung, mit der ein Fahrer seine schnellste Runde erzielt hat. Somit lässt sich zumindest ein etwas klareres Bild der Kräfteverhältnisse zeichnen. Um also die wahre Rangordnung im Feld ein wenig besser einordnen zu können, fassen wir die besten Rundenzeiten der Woche zusammen, um die theoretische Rundenzeit, die in Auto erreichen kann, zu erhalten.
Laut Pirelli-Angaben liegt der Zeitunterschied zwischen den Mischungen Ultrasoft und Supersoft auf einer Runde in Barcelona bei 0,65 Sekunden, zwischen den Mischungen Supersoft und Soft bei 0,5 Sekunden und zwischen den Mischungen Soft und Medium bei 0,95 Sekunden.
Da Pirelli ziemlich klar zum Ausdruck brachte, dass der Circuit de Barcelona-Catalunya für die Ultrasoft- und Soft-Mischungen nicht das ideale Terrain ist, stellen wir unsere Hochrechnungen auf Basis einer theoretischen oder realen Rundenzeit mit der Soft-Mischung auf.
Wir nehmen also die schnellsten Zeiten des Tests her und addieren im Falle von Ultrasoft-Reifen 1,15 Sekunden und im Falle von Supersoft-Reifen 0,5 Sekunden. Auf Basis dieser Berechnung ergibt sich folgendes Top-10-Klassement:
Pos. | Fahrer | Team | Rundenzeit |
1 | Nico Rosberg | Mercedes | 1:23,022 Minuten |
2 | Felipe Massa | Williams | 1:23,193 |
3 | Sebastian Vettel | Ferrari | 1:23,352 |
4 | Lewis Hamilton | Mercedes | 1:23,622 |
5 | Kimi Räikkönen | Ferrari | 1:23.915 |
6 | Carlos Sainz | Toro Rosso | 1:24.284 |
7 | Valtteri Bottas | Williams | 1:24.379 |
8 | Nico Hülkenberg | Force India | 1:24.401 |
9 | Daniel Ricciardo | Red Bull | 1:24.427 |
10 | Max Verstappen | Toro Rosso | 1:24.532 |
Dies würde den Eindruck erwecken, dass Ferrari und Williams – stets mit dem Fragezeichen der Benzinmengen – den Rückstand verkürzt haben, dass aber Mercedes nach wie vor einen gesunden Vorsprung habe.
Die versteckte Runde
Um jedoch in der Formel 1 auf Antworten zu stoßen, sind die Details das Entscheidende. Taucht man etwas tiefer in die Materie ein, so offenbart sich ein faszinierender Einblick in das Tempo von Ferrari. Zwar legte Kimi Räikkönen am Donnerstag mit Ultrasoft-Reifen die absolut beste Rundenzeit der gesamten Testwoche hin. Doch diese Runde ist es nicht, die das Potenzial von Ferrari aufdeckt.
Vielmehr schwärmte Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene kurz vor seiner Abreise von der Strecke am Donnerstag von einer anderen Runde, die Räikkönen an jenem Tag gefahren hatte. „Kimi fuhr seine Bestzeit mit Ultrasoft-Reifen (1:22,765 Minuten), doch die Runde, die mich am meisten beeindruckte, war seine mit Soft-Reifen (1:23,009 Minuten; Anm. d. Red.)“, so Arrivabene gegenüber Motorsport.com.
„Als er die weichere der beiden Mischungen (Ultrasoft; Anm. d. Red.) drauf hatte, beklagte er sich über starken Wind und konnte somit wahrscheinlich nicht das volle Potenzial der Reifen abrufen“, bemerkt Arrivabene und hinterlässt damit eine klare Botschaft: Räikkönens Bestzeit mit der Ultrasoft-Mischung mag die insgesamt schnellste Runde der Testfahrten gewesen sein, aber sie war noch lange nicht das, was Ferrari zu leisten im Stande ist.
Wenn wir also Räikkönens schnellste Runde auf Soft-Reifen für einen direkten Vergleich heranziehen, stellen wir fest, dass er 0,013 Sekunden schneller war als Mercedes-Pilot Nico Rosberg auf eben dieser Mischung.
Aufgrund der endlosen Variablen wie Benzinmenge, Motoreinstellung, Testprogramm oder Streckenbedingungen könnte jedes der beiden Autos einen Vorsprung haben, aber eines wird zumindest deutlich: Es gibt keine Garantie, dass Mercedes in einer eigenen Liga fährt.
So könnte es diese versteckte Runde Räikkönens gewesen sein, die Rosberg zu seinen Aussagen am Freitag bewegte. Gleichzeitig sieht man bei Ferrari nichts als selbstverständlich an. „Wir haben von Mercedes noch nicht alles gesehen“, gibt Teamchef Arrivabene zu bedenken.
„Für Rückschlüsse ist es noch zu früh. Wir müssen mit den Füßen auf dem Boden bleiben und unser Programm weiter durchziehen. Wenn ich das sage, muss ich aber auch festhalten, dass wir mit dem Feedback, das wir an der Strecke erhalten haben, zufrieden sind“, so Arrivabene.
Während der kommenden Tage wird es weitere Zahlenspiele geben. Eine endgültige Antwort werden wir aber erst am Samstagnachmittag in Melbourne erhalten, wenn alle Autos mit identischer Benzinmenge und identischen Reifen bei identischen Streckenbedingungen unterwegs sind. Erst dann werden wir mit Sicherheit sagen können, ob der WM-Titel 2016 hart umkämpft sein wird oder ob uns ein weiteres Jahr der Mercedes-Dominanz ins Haus steht.
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