Oscar Piastri & McLaren: Was wirklich hinter seinem Tweet steckt
Chefredakteur Christian Nimmervoll analysiert "Piastrigate": Wie das Alpine-Management geschlafen und Mark Webber den Deal mit McLaren gemacht hat
Liebe Leser/-innen,
so spannend war schon lang kein Dienstagabend mehr! Zuerst gibt Alpine um 18:11 Uhr bekannt, dass man Testfahrer Oscar Piastri für die Saison 2023 zum Rennfahrer befördert hat. Keine zwei Stunden später, um genau 20:00 Uhr deutscher Zeit, dann das Statement von Piastri auf Twitter, das inzwischen wohl jeder Formel-1-Fan gelesen hat.
Er schreibt, Alpine habe die Pressemitteilung "ohne meine Zustimmung" veröffentlicht. Und: "Das ist falsch. Ich habe mit Alpine keinen Vertrag für 2023 unterschrieben. Ich werde nächstes Jahr nicht für Alpine fahren."
Bum.
Noch ist die Situation viel zu diffus, um sie final aufzuschlüsseln - unter anderem auch, weil sich McLaren noch nicht öffentlich geäußert hat. Teamchef Andreas Seidl ist derzeit nicht erreichbar. Verständlich. Hinter den Kulissen der Formel 1 glühen die Telefondrähte mit Sicherheit gerade heiß.
Doch man kann einige Schlüsse aus dem Piastri-Tweet ableiten.
Erstens: McLaren scheint entgegen aller Behauptungen offenbar doch dazu bereit zu sein, Daniel Ricciardo rauszuschmeißen.
Für ein Williams-Cockpit würde Piastri Alpine mutmaßlich nicht absagen. Wenn er bei McLaren unterkommen kann, und den Eindruck scheint zumindest das Piastri-Camp rund um Manager Mark Webber zu haben, dann bedeutet das zwangsläufig "Game over" für Ricciardo.
Der übrigens, das nur am Rande bemerkt, genau wie Piastri Australier ist.
Zweitens: Es deutet einiges darauf hin, dass die Frist, innerhalb der Alpine die Option auf Piastri für 2023 ziehen konnte, am 31. Juli abgelaufen ist. Sollte das stimmen, dann wäre das ein schwerwiegender Managementfehler auf Alpine-Seite.
Weil sich keine der beteiligten Parteien im Klartext äußert, können wir aktuell nur spekulieren.
Ein denkbares Szenario geht so: Szafnauer ist davon ausgegangen, dass Fernando Alonso bleiben würde. Dessen Aston-Martin-Deal ist ganz schnell gegangen. Final erfahren hat Szafnauer von Alonsos Weggang erst durch die Pressemitteilung. Das hat er am Dienstagmorgen bei einem Mediengespräch verraten.
Der 31. Juli war der Sonntagabend in Budapest. Zu dem Zeitpunkt ging Szafnauer - so sagt er das zumindest - davon aus, dass Alonso bleiben würde. Also sah er womöglich keine Veranlassung, die Piastri-Option fristgerecht zu ziehen. Man würde den jungen Australier ohnehin nicht brauchen.
Piastri wiederum könnte gewusst haben: Wenn meine Option bis zum Abend des 31. nicht gezogen wird, bin ich frei - und kann bei McLaren zusagen. Was er, darauf lässt zumindest sein Tweet schließen, womöglich auch gemacht hat.
Sollte es sich wirklich so zugetragen haben, ist Szafnauer rücktrittsreif. Weil er dann seinen Plan B nicht fristgerecht aktiviert hat, obwohl Plan A noch nicht zu Papier gebracht war.
Drittens: Vertraue niemals Fernando Alonso! Alpine-CEO Laurent Rossi hat erst kürzlich erzählt, dass man mit Alonso bereits besprochen habe, dass er nach der Formel-1-Karriere für Alpine auf die Langstrecke gehen und nochmal Le Mans gewinnen kann.
Da dachten viele: Jetzt geht er bei dem Team in Rente, das ihn zu zwei WM-Titeln in der Formel 1 geführt hat - und das bis heute das einzige Team ist, wo er noch keine verbrannte Erde hinterlassen hatte. Das ist jetzt auch vorbei.
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass gerade McLaren von Alonsos Pokerspiel mit Lawrence Stroll profitieren könnte.
Viertens: Offenbar hat Szafnauer Alonso nicht genau zugehört.
Am Donnerstag in Ungarn referierte Alonso bei einer Medienrunde in der Alpine-Hospitality über seine Zukunft. Danach gingen fast alle Beteiligten raus und hatten das Gefühl: Die Vertragsverlängerung bei Alpine ist nur noch Formsache. In zehn Minuten, so Alonso, sei das alles erledigt.
Wenn man das Gesagte im Nachhinein nochmal durchhört, erscheinen einige von Alonsos Aussagen plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Er habe 2020 schon einmal mit Aston Martin gesprochen, verriet er da. Auf die Frage, ob Aston Martin eine Option sei, antwortete er: "Alle Teams sind eine Option, solange sie nicht zwei Fahrer unter Vertrag haben."
Oder: "Die Sommerpause ist wahrscheinlich der Zeitpunkt, an dem ich mich hinsetzen und etwas entscheiden muss. Und Sommerpause ist am Montag."
Oder: "Vielleicht ist mein Wunsch zu bleiben. Aber wir haben uns noch nicht hingesetzt und die Dinge geklärt." In Kombination mit: "Wenn sich zwei Parteien auf etwas einigen wollen, dauert das zehn Minuten. Wenn zwei Parteien einander nicht einig sind, ist vielleicht eine der beiden Seiten nicht happy."
Weil Alonso solche Sätze eingebettet hat in Statements wie "Meine Priorität ist Alpine" und "Ich bin glücklich, wo ich bin", wurde diesen keine große Bedeutung beigemessen. Niemand hatte den möglichen Aston-Wechsel auf dem Zettel. Vor allem nicht so schnell.
Jetzt sickert langsam durch: Alpine wollte Alonso nur ein Jahr garantieren, mit Option auf ein zweites. Aston Martin gab ihm direkt einen längerfristigen Vertrag.
Außerdem sagte Alonso am Donnerstag: "Andere Kategorien interessieren mich im Moment nicht." Das gilt dann wohl auch für ein Alpine-Cockpit in der WEC.
Fünftens: Zwischen Alonso und Aston ist alles "sehr schnell" gegangen. Das hat mir am Montag jemand gesteckt, der es wissen muss.
Als Sebastian Vettel Aston Martins Angebot abgelehnt hatte, 2023 weiterzumachen, dürfte der alte Kontakt zu Alonso sehr schnell reaktiviert worden sein. Und weil man schon einmal verhandelt hatte, musste man nicht bei null beginnen, sondern konnte auf bestehende Konversationen aufsetzen.
Sechstens: McLaren und Piastri flirten vermutlich schon länger miteinander. Sollte Piastri am Montag wirklich einen Vertrag unterschrieben haben, kann dieser kaum erst am Montag verhandelt und komplett aufgesetzt worden sein.
Anders wäre das, wenn man nur einen sogenannten "Termsheet" unterschrieben hat. Mit den grundlegenden Eckpunkten einer Einigung, die dann im Nachhinein in aller Ruhe in einen Vertrag gegossen werden.
Bis Ende Mai hatte sich McLaren trotz mangelhafter Leistungen stets hundertprozentig hinter Ricciardo gestellt. Als McLaren-CEO Zak Brown bei den 500 Meilen von Indianapolis war, änderte er sein Wording. Plötzlich sprach er von "Mechanismen", unter denen der Vertrag mit Ricciardo vorzeitig enden könnte.
Vielleicht hat Ricciardo auch deshalb am 13. Juli auf Twitter gepostet: "I am committed to McLaren."
Damit hat Ricciardo den Ball zu McLaren gespielt: Ich werde nicht kündigen. Wenn ihr mich loswerden wollt, müsst ihr mich kündigen!
Siebtens: Mark Webber hat seinen ersten großen Coup als Manager eines Formel-1-Fahrers, der Piastri ab 2023 sein wird, gelandet.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieser Vertrag auf Kosten jenes Teams geht, bei dem Webber 2001 als Testfahrer erstmals Formel-1-Luft schnuppern konnte (damals noch unter dem Namen Benetton).
Webber und McLaren-Teamchef Seidl, auch das ist ein Teil dieser Geschichte, kennen und vertrauen einander. 2014, als Webber seine Formel-1-Karriere beendet hatte, wechselte er zu Porsche in die WEC - und wurde dort 2015 Langstrecken Weltmeister.
Sportlicher Leiter des LMP1-Projekts von Porsche damals: Andreas Seidl.
Euer
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.
Mit Bildmaterial von Motorsport Images.
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