Warum Max Verstappen "gar nicht" an den WM-Titel 2022 denkt
Wie Red Bull seinen Start in die Formel-1-Saison 2022 einordnet, welche Probleme weiter ungelöst sind und wie viel Druck intern von Max Verstappen kommt
Die erfolgreiche Titelverteidigung ist für Max Verstappen ganz weit weg. Nach drei Rennen in der Formel-1-Saison 2022 mit zwei Ausfällen sagt der Niederländer selbst: "[An die WM] denke ich gar nicht." Und: "Im Augenblick gibt es keinen Grund, daran zu glauben." Denn zu groß sind die Defizite bei seinem Team Red Bull, als dass Verstappen aktuell der Favorit auf den erneuten Triumph in der Gesamtwertung wäre.
Die nackten Zahlen: Mit bisher 25 Punkten belegt Verstappen nur den sechsten Platz in der Fahrerwertung, hat bereits 46 Punkte Rückstand auf den klaren Tabellenführer Charles Leclerc von Ferrari. Und im Gegensatz zu Leclerc hat Verstappen ein Auto, auf das er sich nicht verlassen kann. Denn zweimal schon hat ihn sein RB18 in aussichtsreicher Position im Stich gelassen.
"Max hat schon 36 Punkte verloren", muss Teamchef Christian Horner einräumen. Außerdem sei Leclerc im Ferrari F1-75 zuletzt in Melbourne "unerreichbar" gewesen. Red Bull hat also gleich zwei Probleme auf einmal: Die Haltbarkeit stimmt nicht und die Konkurrenz ist stark, zum jetzigen Zeitpunkt stärker als Red Bull.
"Wir brauchen natürlich eine bessere Zuverlässigkeit", sagt Verstappen, doch das alleine reiche nicht aus in der Saison 2022. "Denn wenn du um den Titel kämpfen willst, musst du vor Ferrari sein", erklärt er. "Sie haben einige Sachen weitaus besser im Griff als wir."
"Ich weiß aber: Alle im Team geben ihr Bestes, also kann ich mich nicht beschweren. Und die Saison ist noch lang. Wir bräuchten aber wohl 45 Rennen, so weit liegen wir schon in der Gesamtwertung zurück. Ab sofort müssen wir vorne sein, schneller sein. Das sind wir im Moment aber nicht. Vor allem muss die Zuverlässigkeit stimmen. Auch da fehlt es uns. Also: viel Arbeit für uns."
Red Bull: In Melbourne saß die Abstimmung nicht
Denn die mangelhafte Haltbarkeit ist nur ein Thema von vielen, das Red Bull beschäftigt. Die Abstimmung des RB18 zum Beispiel bereitet dem Team weiter Kopfzerbrechen. "In Melbourne", meint Horner, "ist es Max das ganze Wochenende über nicht gelungen, das Auto ins richtige Einsatzfenster zu bringen." Die Folge: Graining an den Vorderreifen im Rennen und erst recht keine Chance gegen Leclerc im Ferrari.
"Das ist meist das Zeichen dafür, dass man die Balance nicht perfekt getroffen hat", sagt Horner. "Bei Charles gab es den geringsten Reifenverschleiß. Wenn das Auto ideal abgestimmt ist, sieht man solche Probleme eben nicht. Er hatte daher keinen Blasenwurf an den Reifen, er hatte auch nicht so viel Graining [wie Verstappen]."
Und Verstappen habe "gar keinen Druck machen" können, so sagt er selbst. "Sonst wären die Reifen kaputtgegangen." Das sei in Melbourne "extrem" gewesen, betont der Weltmeister.
Verstappen & Co. vom Wetter überrascht?
Red Bull ist dort womöglich vom Wetter überrascht worden, wie Helmut Marko im 'ORF' andeutet. "Irgendwas muss sein", meint er nach dem Australien-Grand-Prix, "weil die Longruns [am Freitag] waren ja an und für sich gut, aber die Streckentemperatur war [am Sonntag], glaube ich, mehr als zehn Grad höher. Vielleicht hat es daran gelegen", so der frühere Formel-1-Fahrer.
Horner denkt ähnlich und sagt: "Am Freitag waren wir davon ausgegangen, im Rennen käme es vor allem auf die Hinterreifen an. Wir hatten ziemlich viel Graining an der Hinterachse gesehen."
"Indem wir aber versucht haben, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, haben wir im Rennen den gegenteiligen Effekt erzielt und die Vorderreifen haben nicht gehalten. Deshalb haben wir mit beiden Autos die Balance nicht gut getroffen und hatten viel Graining, vor allem auf den Medium-Reifen. Max' wahre Pace", meint Horner, "haben wir nie gesehen."
Ferrari schont die Pirelli-Reifen besser
Verstappen habe "überhaupt nicht attackieren" können, sagt Marko und ergänzt bei 'Sky': "Wir sind Zeiten gefahren, da war ja schon Mercedes zeitweise schneller. Wir tun uns einfach schwer, ins richtige Fenster zu kommen."
Im Vergleich zu Ferrari habe man in Melbourne im Rennen "gute drei bis fünf Zehntel" auf der Medium-Reifenmischung verloren, meint Marko. "Mit dem harten Reifen waren wir näher dran, aber immer, wenn Max attackiert hat, hat Leclerc locker nachgelegt."
Überhaupt habe Ferrari viel weniger Probleme mit dem Reifenhaushalt gehabt. "Sie mussten nur in zwei Kurven achtgeben, bei uns waren es fünf", erklärt der Red-Bull-Sportchef. Sein Team sei daher "deutlich abgeschlagen" gewesen. Denn Ferrari kriege das Auto immer ins optimale Einsatzfenster, aber "wir tun uns von der Gesamtabstimmung schwer [und] sobald Temperaturänderungen dazukommen noch schwerer", sagt Marko.
Verstappen: Set-up perfekt erwischen ist 50:50-Chance
Verstappen spricht hier von einer 50:50-Chance, beim Set-up richtig zu liegen. "Entweder du triffst die Balance oder du liegst daneben", so beschreibt er die diffizile Abstimmung des RB18. "Da haben wir wirklich Probleme."
Wohl auch deshalb setzt die Führungsriege von Red Bull große Hoffnungen in technische Neuerungen, die bereits beim vierten Saisonrennen in Imola zum Einsatz kommen sollen: "Wir haben ein paar Dinge in der Hinterhand, die Abhilfe schaffen sollten", meint Horner. Marko spricht von einem Update, "das uns eigentlich auf Ferrari-Höhe bringen müsste", sofern es ähnlich gut anschlage wie das jüngste Paket.
Doch Marko sagt auch ganz klar: "Der ganze Speed hilft dir nichts, wenn man nichts ins Ziel kommt. Als Erstes müssen wir [also] die Zuverlässigkeit lösen."
Zuverlässigkeit immer noch Fragezeichen bei Red Bull
Doch die unterschiedlichen Defekte bei AlphaTauri und Red Bull geben Teamchef Horner immer noch Rätsel auf, weil sich diese "unabhängig voneinander" ereignet hätten. "Da gab es keinen Zusammenhang", meint er. "Das müssen wir nachvollziehen und schnell abstellen, denn als Team haben wir schon 50 Punkte liegenlassen. Fahrer- und Konstrukteurswertung könnten ganz anders aussehen."
Auch weil Erzrivale Mercedes in beiden Wertungen die zweite Position belegt, hat Marko "kräftige Schmerzen" und meint: "Wir haben ja nicht nur diese Zuverlässigkeitsprobleme, die bei uns eigentlich unbekannt sind. Drei Rennen, dreimal ausfallen, das kennen wir überhaupt nicht."
"Das andere ist das Gewichtsproblem. Wir sind deutlich über dem Gewicht vom Ferrari. [Aber] Gewicht runter ist erstens eine Geld- und zweitens eine Zuverlässigkeitsfrage. Das ist jetzt ein schwieriger Spagat mit der Budgetobergrenze", so erklärt der frühere Rennfahrer. Nachsatz: "Wir stehen vor schweren Zeiten." Denn der Rückstand auf Ferrari sei in Melbourne "alarmierend" gewesen.
RB18 "mindestens zehn Kilo" schwerer als F1-75
Alleine das Gewichtshandicap von Red Bull gegenüber Ferrari belaufe sich auf "mindestens zehn Kilo", so Marko. "Auf Zeit umgerechnet sind das drei Zehntel." Und Verstappen bemerkt nochmals: "Wenn du um den Titel kämpfen willst, musst du vor Ferrari sein." Das aber lasse sich kurzfristig eher nicht bewerkstelligen.
Horner beschwichtigt: "Wir haben gerade mal gut zehn Prozent der Saison hinter uns. Und das Ermutigende ist ja: Unser Auto ist von der Basis her schnell." Jetzt gehe es darum, den RB18 standfest zu machen.
Doch Horner zweifelt, ob in Imola der große Schritt gelingt: "Da gibt es ein Sprintrennen, also hast du vorab nicht viel Zeit zum Evaluieren [von Updates], bevor es ins Qualifying geht. Da musst du schon sehr sicher sein bei dem, was du aufs Auto tust."
Horner: Verstappen in Topform, so oder so
Ungeachtet der technischen Ausgangslage dürfe man mit einem Verstappen in Topform rechnen, so der Teamchef. "Natürlich ist er beim Aussteigen aus dem Auto [nach dem Ausfall in Melbourne] frustriert gewesen, aber er weiß auch: Wir schlagen zurück. Max schlägt zurück. Denn wir haben in den ersten drei Rennen ein paar sehr gute Richtungen für die weitere Entwicklung gesehen."
Red Bull laufe aber von Anfang an einem Rückstand hinterher. "Ferrari hat dieses Projekt viel eher begonnen als wir", meint Horner. "So gesehen müssen wir aufholen. Dass wir vom Speed her von P2 [im Kräfteverhältnis] aus aufholen, ist allerdings ermutigend."
Weitere Co-Autoren: A. van Leeuwen. Mit Bildmaterial von Motorsport Images.
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