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Kolumne 24h Nürburgring 2022: Der Grund für die brutale SP9-Gangart

Die 24 Stunden vom Nürburgring machten mit erstaunlichen Dummheiten von SP9-Fahrern auf sich aufmerksam - Heiko Stritzke zieht nach, woran das liegt

Kolumne 24h Nürburgring 2022: Der Grund für die brutale SP9-Gangart

Liebe Freunde des 24h-Sprintrennens,

man verzeihe mir diesen Volltreffer im 24h-Nürburgring-Bullshit-Bingo, der lässt sich im Zusammenhang mit diesem Thema einfach nicht vermeiden.

Es wäre einfach, die GT3-Fahrer nach diesem Rennen richtig durch den Kakao zu ziehen. Mindestens elf von ihnen (Bamber, Pilet, L. Vanthoor, Yelloly, Harper, Stolz, Thiim, Feller, K. van der Linde, N. Müller, Olsen) haben in diesem Rennen dicke Fehler gemacht. Doch es würde zu kurz greifen, sie hier abzuledern. Eine differenzierte Betrachtung ist erst mit ein wenig Abstand zum Geschehen möglich.

Wir haben ein Rennen erlebt, in dem mehr denn je sichtbar wurde, dass moderne 24-Stunden-Rennen einem Problem unterliegen: Sie sind mehr oder weniger 24 DTM- oder ADAC GT Masters-Rennen hintereinander.

Keiner von diesen Fahrern hat diese Fehler absichtlich gemacht. Sie entstehen, weil man zum Fahren mit 150 Prozent Brechstange verpflichtet ist.

Um es kurz zu machen, das Problem liegt weniger in der Entschärfung der Nordschleife. Geglättete Bodenwellen kommen über die Jahre ohnehin zurück. Der Grund liegt darin, dass wir 24h-Sprintrennen fahren, die Abstände immer geringer werden und die Fahrer zu hohem Risiko gezwungen sind, weil sie sonst nicht gewinnen können.

Das Problem ist systemimmanent. Und es ist nicht so einfach zu lösen.

"Klassische" 24h-Faktoren sukzessive ausgemerzt

Szenen wie der Unfall von Laurens Vanthoor im Grello-Porsche oder der Abschuss des Toksport-Porsches durch den Rowe-BMW ist man eher aus Sprintrennen gewohnt als aus einem 24-Stunden-Rennen mit mehr als 20 Stunden Restzeit. Haben also die Fahrer schlicht und einfach das Fahren im Langstreckensport verlernt? Oder nie wirklich gelernt?

Es ist ein Problem, dass man Langstreckenrennen mittlerweile kaum mehr üben kann. 3-Stunden-GTWC- oder 4-Stunden-NLS/VLN-Rennen sind reine Sprintveranstaltungen, selbst sechs Stunden sind mittlerweile höchstens Mittelstrecke.

Es muss komplett draufgehalten werden, was sich immer wieder in spektakulären Rennen niederschlägt. Und diese sind natürlich von allen Veranstaltern gewollt.

 

So wurden seit Einführung der GT3-Autos ab 2009 immer mehr Faktoren ausgeblendet, die früher mal ein 24-Stunden-Rennen ausgemacht haben. Zum einen sind die Autos nach 15 Jahren stabilem GT3-Reglement zuverlässig wie noch nie. Ein technischer Defekt wie bei Sheldon van der Linde ist heute die Ausnahme.

Früher war es die Regel, dass jedes Auto irgendwann einmal einen längeren Service bekommen hat. Noch 2005 hat der BMW M3 GTR E46 gewonnen, weil man die wenigsten Probleme hatte. Das ist heute nicht mehr der Fall. Der Fall Konrad hat gezeigt: Der Wechsel einer einzigen Spurstange kostet selbst mit allen Unfällen in der SP9-Klasse ein einstelliges Resultat.

Auch über die Strategie lässt sich kein Unterschied mehr machen. Es gab Zeiten, in denen 24-Stunden-Rennen darüber gewonnen werden konnten, dass man etwas langsamer war, aber weniger Boxenstopps einlegen musste, weil man sparsamer fuhr. Die langsamere Gangart hat das Material geschont, während der "Hase" seinen Sprint oft nicht durchhielt. Alles Vergangenheit.

Heute fahren wir mit GT3-Autos, die selbst bei 150 Prozent Brechstange mit Wartungsintervallen von 20.000 und mehr Kilometern daherkommen. Zum Vergleich: Der eingestellte Distanzrekord waren etwas über 4.000 Kilometer.

Die Stintlängen sind via Tankgrößen in der BoP angeglichen. Ein jeder in SP9, SPX und SP-Pro ist auf acht Runden festgenagelt. Hier lässt sich kein Unterschied mehr machen. Und wer es schafft, eine neunte Runde herbei zu zaubern, wird in der nächsten BoP-Runde gleich wieder eingefangen.

Zeiten, in denen eine Dodge Viper aus der ersten Runde mit 20 Sekunden Vorsprung zurückkam, sind vorbei, weil sie nicht mehr vermarktbar sind. Lange Zeit bestand die Spannung in diesem Rennen aus der Ungewissheit, als noch keine Kameras jeden Vorfall jedes Autos in kürzester Zeit zugänglich gemacht haben. Kommt das Auto aus der nächsten Runde wirklich zurück?

So dauerte es noch bis in die 2000er-Jahre hinein oftmals Stunden, bis man Informationen hatte, warum das mit zwei Runden führende Fahrzeug nicht mehr bei Start und Ziel vorbeikam. Allerdings erwartet der Zuschauer heutzutage einen Informationsfluss möglichst innerhalb von Sekunden. Die Spannung muss also anders erzeugt werden. Und da bleibt nur enges Racing.

Nur der Speed ist ausschlaggebend

Die Entscheidung fällt komplett auf der Strecke. Mit dem Segen von ganz oben, denn so sehen wir spektakuläre Bilder wie Überholmanöver im Gras, die irre Aufholjagd von Kevin Estre, packende Rad-an-Rad-Duelle rund um die Uhr - oder auch den heftigen Unfall von Laurens Vanthoor, der an unzähligen Stammtischen der Welt diskutiert werden wird. Das sind Bilder, die sich vermarkten lassen.

Dass wir dabei nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind, weil er direkt an einem Streckenposten eingeschlagen ist, wo normalerweise kein Auto hinkommt, vergisst man dabei zu schnell. Erst in diesem Moment wird einem wieder bewusst, dass es hier um Menschenleben geht.

Wir können alle von Glück (und guten Sicherheitsvorkehrungen) sprechen, dass hier nicht mehr passiert ist. Sonst hätten wir womöglich ganz andere Schlagzeilen gehabt, die das Rennen wirklich gefährdet hätten. Trotzdem: 2015 kann sich jederzeit wiederholen.

Dass es nur noch um reinen Speed geht, erhöht den Druck auf die Fahrer. Ich habe mit verschiedenen Piloten darüber gesprochen. Ganz offen ist DTM-Champion Maximilian Götz, Zweiter in diesem Rennen, mit dem Thema umgegangen:

Vorsprung des Siegers bei den 24h Nürburgring seit 2010

Vorsprung des Siegers bei den 24h Nürburgring seit 2010

Foto: smg/Stritzke

"Jeder weiß: Wenn er nicht alles gibt, kann er am Ende nicht gewinnen. Das Level und die Pace sind in den vergangenen Jahren so extrem hoch gegangen, dass man diese Pace gehen muss. Sonst hat man einfach keine Chance. Natürlich gehört auch ein bisschen Glück dazu, das ist auch ganz klar."

Verluste sind einkalkuliert

Auch die deutschen Hersteller wissen das. Es wird gern über die BoP hergezogen, dass nur deutsche Hersteller gewinnen dürfen. Meines Erachtens stimmt das so nicht ganz. Die deutschen Hersteller sind hier so erfolgreich, weil sie a) über Einsatzteams verfügen, die das ganze Jahr über auf der Nordschleife fahren (das einzige "Fremdteam", das im 21. Jahrhundert hier gewonnen hat, war WRT 2015), und b) mindestens vier siegfähige Autos an den Start bringen.

Verluste sind fest eingeplant. Das Kalkül lautet: Selbst, wenn wir drei verlieren, kann unser viertes Auto gewinnen. Außer es läuft wie bei BMW, wo man gleich mal alle Autos verliert - zum zweiten Mal in drei Jahren (hier muss man sich zusammensetzen). Oder wie Porsche in diesem Jahr, wo selbst bei sieben Pro-Autos kein einziges ohne einen Vorfall durchgekommen ist.

Von der BoP her hätte Aston Martin gewinnen können, dummerweise hatte man nur ein Auto im Rennen. Nach dem Unfall fehlte das Back-up-Fahrzeug. Gleiches gilt für alle anderen "Exoten", sei es Glickenhaus, Ferrari oder Lamborghini: Wer nicht mit mindestens drei Topautos antritt, wird das Rennen nicht gewinnen können, weil die Schlagkraft durch einen Ausfall zu sehr dezimiert wird.

Vorsprung des Siegers bei den 24h Nürburgring seit 2001

Vorsprung des Siegers bei den 24h Nürburgring seit 2001

Foto: smg/Stritzke

Mit der "Aldi-Taktik", nur ein oder zwei NLS-Rennen und vielleicht noch die 24h-Qualifiers mitzunehmen und den Rest des Jahres der Nordschleife fernzubleiben, klappt es schon gar nicht. Gewinnen kann dieses Rennen nur, wer ein Einsatzteam hat, das die gesamte Saison am Ring bestreitet, und genügend Fahrzeuge an den Start bringt.

Es ist eine Materialschlacht. Und damit ist der Druck auf die Fahrer enorm. "Wir gehen immer mehr Risiko, weil auch das SP9-Starterfeld immer größer wird", sagt Rennsieger Kelvin van der Linde. Er selbst lieferte auf seinem anderen Auto ein Beispiel dafür, wie es gehen kann. Es wäre jetzt einfach, auf ihn einzudreschen, doch ich kann ich sein Handeln beim Unfall der #5 verstehen.

Die "Kleinen" verlieren die Lust

Man hat einen Porsche vor sich, der auf der linken Seite fährt und den Blinker nach rechts setzt. Es gilt auf der Nordschleife die Regel: Wer links blinkt, fährt links, wer rechts blinkt, fährt rechts. Daher ist van der Linde schuld und es wäre nur allzu verständlich, wenn sich das aus dem Rennen genommene Cayman-Team lautstark beschwert hätte. Soweit die Theorie.

Doch schauen wir uns die Situation differenzierter an. Man sieht immer wieder Rennwagen, die versehentlich dauerblinken (man denke an den blinkenden Dacia 2021). Will der Cayman-Fahrer also ein Signal geben, das in dem Moment aber keinen Sinn macht, weil rechts ja mehr als genügend Platz ist? Oder ist nur der Blinker defekt? Nur so viel: Der Rennfahrer in mir wäre auch in die Lücke rechts gestoßen.

 

Wie hätte sich van der Linde angesichts eines Langstreckenrennens verhalten müssen? Er hätte vom Gas gehen und warten müssen, was der Cayman macht. Erneut, soweit die Theorie.

Das Problem: Die Nummer hätte locker fünf Sekunden gekostet. Ist doch nicht viel in so einem Rennen? Stimmt, aber man nehme diesen Vorfall mal zehn, und plötzlich hat ein Auto wie von Geisterhand fast eine Minute verloren. Früher wäre das kein Problem gewesen. Heute ist das bereits der Unterschied zwischen Platz eins und zwei - sogar vor der Strafe gegen den Phoenix-Audi.

Um sich den Effekt mal vor Augen zu führen: Seit 2015 wurde das Rennen - mit der großen Ausnahme bei der Ausfallorgie 2019, als der Sieger eine Runde Vorsprung hatte - stets mit weniger als einer Minute Vorsprung gewonnen. Da gibt es nur: Sekt oder Selters. Denn irgendeiner der Draufgänger kommt in der Regel doch durch.

Noch deutlicher wird das Bild bei der Betrachtung der Abstände aller Sieger des 21. Jahrhunderts. In den 2000er-Jahren betrug der Abstand immer mindestens eine Runde (im Diagramm mit 8:20 Minuten = 500 Sekunden gleichgesetzt). Seit 2010 gab es nur die eine Ausnahme 2019, ansonsten waren immer mehrere Autos in einer Runde.

Anzahl der Teilnehmer bei den 24h Nürburgring seit 2001

Anzahl der Teilnehmer bei den 24h Nürburgring seit 2001

Foto: smg/Stritzke

Wie sich das Problem lösen lässt? Ich weiß es offen gesagt nicht. Ein Fahrer eines kleineren Autos sagte mir: "Jede Berührung durch ein SP9-Auto müsste 30 Strafsekunden für diesen nach sich ziehen." Viel Spaß mit der Auswertungsarbeit, aber irgendwie will mir derzeit auch keine andere Lösung einfallen.

Doch es ist Handlungsbedarf angesagt, denn die Sache wird mittlerweile zum Problem. 138 Autos sind ein klarer Warnschuss. Es sind nicht die GT3, die wegfallen. Es sind die kleinen Teams, die schlicht und einfach keine Lust mehr haben, von den "Großen" über den Haufen gefahren zu werden.

Der ADAC Nordrhein wäre gut beraten, sich dieses Themas anzunehmen. Es braucht einen "New Deal" bei der Fahrweise, sonst sind die Kleinen bald ganz weg. Die können es sich nämlich nicht leisten, vier Autos einzusetzen und hoffen, dass eines davon nicht aufgespießt wird.

Und das kann niemand wollen, denn sie gehören dazu. Das ist eine weitaus größere Sache, als sich damit auseinanderzusetzen, ob man Reifenwärmer verbieten will oder nicht.

Euer

Heiko Stritzke

Mit Bildmaterial von VLN.

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