MotoGP-Kolumne Jerez: Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat
Der Dauerrivale ist aus dem Rennen, Yamaha mangelt es auch 2020 an Topspeed: Andrea Dovizioso steht vor der größten Chance seines Lebens, meint Redakteur Sebastian Fränzschky
Foto: Gold and Goose / Motorsport Images
Liebe Motorradfreunde,
nach dem aufregenden Saisonstart der MotoGP in Jerez gibt es eine Reihe an Kandidaten, die vermutlich gut geschlafen haben. Zuerst einmal denke ich da natürlich an die Organisatoren. Der MotoGP-Auftakt ging abgesehen von den teilweise wilden Partys außerhalb des Geländes ohne Komplikationen über die Bühne. Chapeau!
Natürlich wird auch Debütsieger Fabio Quartararo gut geschlafen haben. Der 21-Jährige aus Nizza ist jetzt ein MotoGP-Sieger. Es haut mich immer wieder um, zu sehen, wie abgeklärt und erwachsen Quartararo vorgeht.
Abgesehen von der hochemotionalen Zieldurchfahrt, bei der Quartararos Airbag auf Grund der wilden Feierei zündete, befand sich der Yamaha-Pilot stets in Kontrolle. In der Pressekonferenz kurz nach seinem bisher größten Karriereerfolg gab er wie gewohnt gut überlegte Antworten.
Quartararo hat seine Emotionen im Griff. Diese Fähigkeit ist sicher eine der Stärken des neuen MotoGP-WM-Leaders. Frankreich feiert mit Quartararo einen neuen Superstar. Auf den Titelseiten der Sportportale sieht man im Nachbarland aktuell einen Motorradsportler. Ein Szenario, das in Deutschland unvorstellbar geworden ist.
Warum Andrea Dovizioso die Chance seines Lebens hat
Doch Fabio Quartararo als Kandidat für die heutige Kolumne auszuwählen, ist mir ehrlich gesagt ein bisschen zu kurz gedacht. Nein, ich bin überzeugt, dass Ducati-Pilot Andrea Dovizioso nach dem gestrigen Rennen noch besser geschlafen hat als der Debütsieger aus Südfrankreich.
Lassen Sie mich erklären, warum ich so denke.
Mit einem Blick auf Doviziosos Statistik wird sofort klar, dass Jerez eine der absoluten Angststrecken des Italieners ist. Weder mit der Honda RC212V, noch mit der Yamaha M1 oder der Ducati Desmosedici schaffte es "Dovi" bisher in Jerez aufs Podium. Mit Platz drei kassierte er in diesem Jahr wichtige Punkte für die WM.
Das Podium in Jerez hat Doviziosos Selbstvertrauen enorm gesteigert. Er war erneut bester Ducati-Pilot, obwohl das Pramac-Duo Jack Miller und Francesco Bagnaia in Jerez hoch motiviert zu Werke ging und in den Trainings immer einen Schritt voraus zu sein schien. Im Rennen rückte "Dovi" die Hackordnung wieder gerade und bestätigte, warum er in den vergangenen Jahren Ducatis Speerspitze war.
Der Gegner heißt nicht mehr Honda sondern Yamaha
Dovizioso wird spüren, dass 2020 ein besonderes Jahr werden könnte. Denn machen wir uns nichts vor: Weltmeister Marc Marquez wird nach aktuellem Stand nicht Doviziosos größter Gegner in diesem Jahr sein. Auf Grund des Oberarmbruchs steht dem Champion eine lange Verletzungspause bevor. Auf Grund des kompakten Kalenders ist es umso schwieriger, verlorenen Boden wieder gutzumachen.
Und wenn es Dovizioso gelingt, auch beim zweiten Rennen in Jerez nicht allzu viele Punkte auf die Yamaha-Piloten zu verlieren, dann ist die Nummer 04 in meinen Augen der große Favorit für die MotoGP-Krone 2020. Ein Blick auf den Kalender und die Strecken dürfte bei Ducati und Dovizioso ein innerliches Grinsen erzeugen.
Im direkten Duell mit der Honda RC213V war der große Vorteil der Ducati Desmosedici, die Performance auf den Geraden, über die Jahre immer kleiner geworden. Doch jetzt kämpft Ducati nicht mehr gegen Honda sondern gegen Yamaha.
Und die M1 ist auch in diesem Jahr leichte Beute auf den Geraden. Das wurde bereits in Jerez deutlich - einer Strecke, die nur eine nicht besonders lange Gerade hat. Brünn, Spielberg, Barcelona, Misano und Aragon sind Paradestrecken von Dovizioso und Ducati.
Auf eine Runde im Training und Qualifying wird Yamaha immer stark sein, aber im direkten Duell dürfte Dovizioso leichtes Spiel haben mit den Yamahas von Maverick Vinales und Fabio Quartararo. Denn es ist nach wie vor so, dass man auf den Geraden sehr einfach überholen kann, in den Kurven aber nicht durch seine Gegner durchfahren kann. Und das ist seit Jahren die Achillesferse der Yamaha M1.
Ducati hat noch Raum für Verbesserungen
Michelins neuer Reifen spielte bisher den Motorrädern mit Reihen-Vierzylinder-Motoren in die Karten. Sprich, Yamaha und Suzuki wurde das Leben leichter gemacht, während die Konkurrenz etwas zu kämpfen hatte. Doch Ducati befindet sich voll auf Kurs, die Reifen immer besser zu verstehen.
Anhand der Daten vom ersten Jerez-Rennen wird Dovizioso zusammen mit seinen Ducati-Ingenieuren viele Erkenntnisse ziehen. Kaum ein MotoGP-Pilot geht so analytisch vor wie "Desmo Dovi". Das wird sich auszahlen. Ich erkenne noch reichlich Luft bei Ducati, während Yamaha das Paket schon ziemlich gut auszureizen scheint.
Offene Zukunft verschafft zusätzliche Motivation
Doviziosos Zukunft ist weiterhin unklar. Noch hat der Routinier keinen Vertrag für die Saison 2021. Er möchte sich Zeit lassen. Ducati muss das akzeptieren, denn eine echte Alternative steht ohnehin nicht bereit. Ich kann mir gut vorstellen, dass die offene Zukunft für Dovizioso ein weiterer Antrieb sein könnte.
Normalerweise performen Sportler besser, wenn sie sich keine Gedanken über ihre Zukunft machen müssen. Mit freiem Kopf kann man sich besser auf seine sportlichen Aufgaben konzentrieren. Deshalb wurden in der Corona-Pause viele Verträge vorzeitig verlängert.
Doch beim Vertragspoker mit Ducati ist die Situation anders. Dovizioso hält alle Trümpfe in seiner Hand. Wenn sich abzeichnet, dass er der Fahrer ist, der Ducati den zweiten Titel nach Casey Stoner beschert, dann sollte er auch seine Forderungen erfüllt bekommen.
Es geht ums Geld. Außenstehende haben oft Probleme, dieses Thema richtig einzuordnen. Ein MotoGP-Spitzenfahrer muss sich natürlich keine Gedanken um seine Finanzen machen. Nein, eine gute Bezahlung dient nicht zwingend der finanziellen Absicherung.
Bei Spitzensportlern geht es ums Ego. Eine gute Bezahlung ist ein Zeichen der Wertschätzung. Und in Sachen Wertschätzung kam Dovizioso bei Ducati in den vergangenen Jahren einige Male zu kurz, finde ich.
Die MotoGP-Saison 2020 könnte Doviziosos großes Jahr werden. Die Vorzeichen dafür stehen besser denn je.
Ihr
Sebastian Fränzschky
PS: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlagen hat, können Sie auf unserer Schwesterplattform motorsport-total.com lesen. Zur Montagskolumne über Honda-Teammanager Alberto Puig geht es hier.
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