Meinung: Warum die Formel 1 dringend einen Wertekodex braucht
Wenn Motorsportmedien über den Wirkungsgrad von Raketenabwehrsystemen berichten müssen, ist der Punkt gekommen, manche Entscheidung zu hinterfragen
Liebe Leser/-innen,
Sebastian Vettel hat, während die Formel 1 in Saudi-Arabien dabei zuschaute, wie ein paar Kilometer neben der Rennstrecke bei einem Drohnenangriff der Huthi-Rebellen auf eine Aramco-Anlage in Dschidda eine gewaltige Explosion passierte (bei der, ersten Berichten zufolge, niemand getötet wurde) etwas wahnsinnig Gescheites gesagt, wie ich finde.
"Was ist eine intakte Wirtschaft wert, wenn's uns nicht mehr gibt?"
Der Kontext, in dem er das gesagt hat, war nicht Saudi-Arabien, sondern der russische Angriffskrieg und die Diskussion über die Forderung, den Gashahn zuzudrehen, um das Töten in der Ukraine nicht weiterhin mit europäischem Geld zu finanzieren. Aber die Aussage könnte man durchaus auch auf die Formel 1 in Saudi-Arabien münzen und die Lage, in die sich der Grand-Prix-Sport dort gebracht hat.
Es ist doch völlig absurd, dass wir in unserem Livestream an einem Freitagabend nicht Longruns analysieren oder augenzwinkernd einspielen, welchen Sieger @KimiDerF1Kater für Sonntag vorhersagt; sondern uns darüber unterhalten müssen, dass die Saudis versichert haben, dass ihre Raketenabwehrsysteme eh super funktionieren und die Sicherheit des Formel-1-Paddocks daher gewährleistet ist.
Es geht jetzt erstmal gar nicht um die Frage, ob dieser Grand Prix abzusagen ist oder nicht. Die Fahrer haben sich darüber am Freitagabend offenbar stundenlang Gedanken gemacht, und ich bin mir sicher, dass bei der Diskussion auch Vettel zugeschaltet war. Dass der diesmal den Blick von außen hatte, tut der Sache im großen Ganzen vielleicht ganz gut.
Dass das Rennen stattfindet, das ist jetzt eben so. Dass alle zum Flughafen fahren und nach Hause aufbrechen, kann vielleicht auch nicht die Lösung sein, denn die Explosionen am Freitag haben ganz in der Nähe des Flughafens stattgefunden.
Man muss das ganze auch in die richtige Perspektive setzen: Ein Bombenangriff auf die Rennstrecke ist nach allem, was man weiß, tatsächlich unwahrscheinlich. Bomben gehören im Nahen Osten halt dazu. In der Regel fliegen sie auf Ziele, die mit der Energieversorgung oder der militärischen Infrastruktur zu tun haben. Zivile Ziele werden, versichert man dieser Tage, normalerweise in Ruhe gelassen.
Aber die Frage ist gar nicht, ob ein ausbalanciertes Set-up diesmal besonders wichtig ist, weil die Fahrer im Rennen am Sonntag im Zweifel Raketeneinschlägen auf der Strecke ausweichen müssen. Die Frage ist, ob sich die Formel 1 überhaupt je in die Lage hätte bringen sollen, an so einem Ort ein Autorennen auszutragen.
Worum es bei der Saudi-Arabien-Frage eigentlich geht
Der Krieg zwischen den Huthi-Rebellen und Saudi-Arabien, der dort schon seit Jahren tobt, ist die eine Sache. Dass Saudi-Arabien erst heute vor zwei Wochen an einem einzigen Tag 81 Hinrichtungen vollzogen hat und zur Todesstrafe generell ein sehr entspanntes Verhältnis hat, eine andere. Menschenrechte, wie wir in Deutschland sie interpretieren, sind dort keine Selbstverständlichkeit.
Die Formel 1 hat mit dem Event auch ihren Fahrern keinen Gefallen getan. Es ist in Saudi-Arabien gesetzlich verboten, das Regime zu verunglimpfen. Trotzdem hatten in der Pressekonferenz am Freitag zwei Journalisten, genauer gesagt Jerome Pugmire von der Nachrichtenagentur Associated Press und Phil Duncan von der Press Association, den Mut, sehr kritische Fragen zur Formel 1 in Saudi-Arabien zu stellen.
Damit brachten die beiden die Fahrer in eine sehr unangenehme Position. Sollte man sagen, was man vielleicht wirklich denkt, ungefiltert und unzensiert, und damit Gefahr laufen, nicht nur die Formel-1-Chefs zu verärgern, sondern im schlimmsten Fall König Salman ibn Abd al-Aziz, den Oberbefehlshaber des saudischen Militärs und den Hüter der heiligen Stätten?
Ist vielleicht keine so gute Idee, wenn man weiß, dass gerade 30 Journalisten und Blogger "aus demselben Grund im Gefängnis sind, aus dem der Exil-Journalist Jamal Khashoggi ermordet wurde", schreibt die Organisation Reporter ohne Grenzen auf ihrer Internetseite und präzisiert: "Weil sie kritisch über die Politik des Königreichs oder über die Zustände im Land berichtet haben."
Warum man den Fahrern keinen Vorwurf machen sollte
Daher würde ich es den Herren Formel-1-Stars auch nie zum Vorwurf machen, wenn sie kritische Fragen von den bewundernswert mutigen Kollegen vor Ort nicht mit einem leidenschaftlichen Rant gegen die Zustände in Saudi-Arabien beantworten, sondern peinlich herumdrucksen, um einerseits das Gesicht als halbwegs anständiger Charakter zu wahren, andererseits aber auch einen weiten Bogen um saudische Gefängnisse zu machen.
"Wir als Fahrer haben nicht die Wahl, wo wir fahren", meint zum Beispiel Valtteri Bottas. "Wir fahren dort, wo es die Formel 1 für richtig und angemessen hält." Aber daran, dass Saudi-Arabien ein angemessener Ort ist, um Autorennen zu fahren, schienen am Freitagabend viele Fahrerkollegen ernste Zweifel zu haben, und es dauerte bis 3 Uhr morgens, bis diese ausgeräumt waren.
Natürlich wurden die Fahrer von ihren Presseleuten gebrieft, wie sie solche Fragen über Saudi-Arabien am besten beantworten können. Die Erzählung, auf die man sich geeinigt zu haben scheint, ist: Mit der Formel 1 bringen wir den "Wind of Change" ins Land, und wir leisten einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich Saudi-Arabien ändert.
Die wahre Geschichte ist natürlich, und das weiß auch jeder, der nur ein bisschen was von unserem Sport versteht, eine ganz andere: In Saudi-Arabien sprudeln auch in einer Zeit, in der in Deutschland emsig Windräder gebaut werden, die Petrodollars noch ungehemmt so, als gäbe es kein Morgen, und diktatorische Regimes sind ganz praktische Geschäftspartner, weil die nicht von lästigen demokratischen Prozessen daran gehindert werden, Milliarden in die Formel 1 zu investieren statt damit dafür zu sorgen, dass es den Menschen im Land (auch in einer fernen Zukunft noch) nachhaltig geht.
In meinem Alltime-Lieblingsfilm "Vanilla Sky" gibt's ein Zitat, das passt irgendwie in diese Kolumne. "Was ist die Antwort auf 99 Prozent aller Fragen?", sagt Tom Cruise da in einem Dialog mit Kurt Russell. Und die Antwort gibt er sich gleich selbst: "Geld."
Als Formel-1-Journalist habe ich in 23 Jahren, in denen ich diesen Job nun mache, gelernt: Das stimmt.
Warum es letztendlich eben doch "Sportswashing" ist
Mag ja sein, dass die Formel 1 sich dafür stark gemacht hat, dass 40 Prozent der Mitarbeiter vor Ort weiblich sind, was für saudische Verhältnisse einer Revolution des patriarchalischen Gesellschaftsbildes gleichkommt. Das ist wirklich positiv, und ich meine das ganz ironiefrei. Ebenso wie die vielen modernen Initiativen, die von der Formel 1 und von den Teams unterstützt werden.
Aber wenn das wirklich so wichtig wäre für die Entscheider, wie sie die Welt gern glauben lassen, dann muss auch die Gegenfrage erlaubt sein: Würde die Formel 1, um in Saudi-Arabien Gutes zu bewirken, auch für "normale" Beträge, wie sie andere Promoter bezahlen, kommen?
Ich glaube, wir wissen, wie die Antwort auf diese Frage lautet.
Die Huthi-Drohnen haben, das muss man wissen, am Freitag eine Aramco-Anlage in Dschidda in Schutt und Asche gelegt. Aramco ist nicht irgendeine Firma, sondern Seriensponsor der Formel 1 und Titelsponsor von Sebastian Vettels Team Aston Martin.
Ich frage mich ja, was Seb gesagt hätte, hätten Jerome Pugmire und Phil Duncan ihm solche Fragen stellen können. Hätte er sich der Omertà der Formel 1 gebeugt und die gleichen Stehsätze vorgebetet wie seine Kollegen? Oder hätte er den Mut gehabt, die Zustände in Saudi-Arabien öffentlich zu kritisieren und anzuprangern, dass die Formel 1 Geld über Menschenrechte priorisiert?
Ich persönlich glaube ja: Die Marketingchefs bei Aston Martin und Aramco sind ganz froh, dass Seb zu Hause geblieben ist. Und es ist in diesem Kontext übrigens interessant festzuhalten, dass er zwar dieses Wochenende nicht fährt, das Team aber mit keinem Wort behauptet hat, dass der Grund dafür ein positiver Coronatest ist. Aber das ist nur ein eigentlich irrelevantes Detail am Rande.
Pressekonferenz: Was Lewis Hamilton dazu gesagt hat
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll", windet sich selbst Lewis Hamilton um eine klare Position. Dabei ist er einer, dem in solchen Fragen sonst selten der Mut ausgeht. Als beim Grand Prix von Australien 2020 gerade das Coronavirus ausbrach und die Formel 1 darüber nachdachte, das Rennen trotzdem auszutragen, lautete sein vernichtendes Urteil: "Cash is King."
"Ich kann nicht viel sagen, was wirklich einen Unterschied machen würde", duckt sich der Mercedes-Fahrer. Ein bisschen was sagt er dann aber doch. Dass es "Wahnsinn" sei, Geschichten wie jene eines 14-jährigen Jungen zu hören, der gerade auf seine Todesstrafe wartet. "Mit 14", sagt Hamilton, "hast du doch verdammt noch mal noch keine Ahnung davon, was du tust im Leben."
Jerome Pugmire hakt nach: Ob Hamilton dazu bereit wäre, sich mit Vertretern der Regierung zu treffen, um mit denen direkt zu sprechen und vielleicht eine Veränderung zu bewirken. Hamilton, erneut in eine hochgradig unangenehme Lage gebracht, antwortet: "Ich finde, es sollte nicht unsere Verantwortung sein, das zu tun."
Es ist die Verantwortung der Macher der Formel 1, die ihre Fahrer in diese unerträgliche Position gebracht hat. Geiz ist Geil, koste es, was es wolle. Zur Not auch, wenn Blut an den Händen der Geschäftspartner klebt.
Ich halte es generell für keine gute Idee, solche Situationen miteinander zu vergleichen. Aber als der Druck groß genug wurde - übrigens angestiftet nicht zuletzt von Sebastian Vettel -, ging es dann doch ganz schnell, den Grand Prix von Russland abzusagen und den Flirt der Formel 1 mit Wladimir Putin ein für alle Mal zu beenden.
Vielleicht wäre das auch jetzt ein angemessenes Handeln. Wenn es unbedingt sein muss, dann fährt man diesen Grand Prix noch. Bringt sich am Sonntagabend in Sicherheit, fliegt nach Hause und sagt erst dort, was man wirklich denkt. Und steigt dann aus dem Vertrag mit den Saudis aus.
Warum macht die Formel 1 nicht einen Wertekodex?
Inzwischen kann man die Zeit nutzen, um etwas, was längst überfällig ist, zu erledigen, nämlich einen verbindlichen Wertekodex aufzuschreiben, der für jedes Veranstaltungsland eines Grand Prix Voraussetzung sein muss, um Formel-1-Host zu werden. Wer sich daran hält, ist willkommen. Wer nicht, der nicht.
In diesem Kodex können meiner Meinung nach ganz banale Dinge stehen wie: "Du darfst keinen Angriffskrieg gegen ein anderes Land führen." Oder: "Du darfst keine Todesstrafe in deinem Land zulassen." Oder: "Es muss gewährleistet sein, dass die Raketenabwehrsysteme, die die Rennstrecke beschützen, sicher funktionieren."
Letzteres ist, no Worries, nur mein schwarzer Humor. Den kann ich mir in solchen Situationen ganz selten verkneifen, weil Lachen mein Mechanismus ist, um mit bizarren Vorgängen umzugehen, die sonst meinen Kopf explodieren lassen.
Ich vertraue auf Lewis Hamilton & Co., dass sie das Richtige tun. Vielleicht kann Sebastian Vettel von der neutralen Schweiz aus ein bisschen mithelfen. Und ich hoffe für alle Mitarbeiter des Formel-1-Zirkus, dass sie sicher nach Hause kommen. Das ist jetzt erstmal das Allerwichtigste.
Ihr
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.
Mit Bildmaterial von Motorsport Images.
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